ExTox in "Der Spiegel" - Pflege bremst die Karriere

01. 02. 18

Werden die Eltern gebrechlich, trifft es Töchter und Söhne oft wie ein Schock. Auf einmal bestimmen nicht mehr Beruf und Kinder ihr Leben, sondern die häusliche Pflege. Das kostet Zeit, Geld und Nerven – falls sie unvorbereitet sind.

Der Unterschied zeigt sich schon in der Wertschätzung: Wer den Nachwuchs versorgt, erntet meist Anerkennung. Wer sich um die Eltern kümmert, dem wird bestenfalls Mitleid entgegengebracht – sofern die Töchter und Söhne überhaupt preisgeben, was sie vor und nach Dienstschluss beschäftigt.
   „Es ist noch immer ein Tabu“, sagt der Unternehmer Ludger Osterkamp. „Normal geht keiner zum Chef und sagt: ‚Ich muss jetzt meine kranke Mutter pflegen.‘“
   Osterkamp, ein Ingenieur mit grauem Dreitagebart, sitzt mit seinen Mitarbeitern beim Mittagessen im Besprechungsraum. Er summt vor sich hin, hat die Hemds - ärmel hochgekrempelt, dann entschuldigt er sich und verschwindet im Nebenraum. Er spielt eine Partie Billard mit einem Kollegen, das tun sie jeden Mittag.
   Osterkamp ist kein typischer Chef, und mit ExTox, einem Spezialisten für Gasmesssysteme mit Sitz in Unna, leitet er keine gewöhnliche Firma. Hier kann jeder der 76 Mitarbeiter kommen und gehen, wann er will. Das Mittagessen ist kostenlos, im Untergeschoss gibt es einen Probenraum für die firmeneigene Band. Und regelmäßig findet ein „Elternsprechtag“ statt: damit auch mal die Mütter und Väter eine Idee davon bekämen, wo ihre erwachsenen Kinder arbeiten, sagt Osterkamp.

AGATA SZYMANSKA-MEDINA / DER SPIEGELUnternehmer Osterkamp: Regelmäßig ein Elternsprechtag

   Der erste Sprechtag vor vier Jahren brachte ihn darauf, seinen Mitarbeitern Hilfe anzubieten, wenn deren Eltern Unterstützung benötigten, aus diesem Grund ließ sich Osterkamp zum Pflegebegleiter ausbilden. Drei Monate lang besuchte er jeden Freitag einen Lehrgang. Nun kann der Geschäftsführer seinen Leuten Tipps geben, beispielsweise, woran man einen seriösen Pflegedienst erkennt.
   Nur in wenigen Betrieben in Deutschland ist ein ausgeprägtes Bewusstsein für die Nöte von Mitarbeitern mit bedürftigen Eltern vorhanden – oder gar ein Instrumentarium, wie sie diese unterstützen können.
Viele Führungskräfte ahnen gar nicht, dass ein Teil ihrer Leute doppelt belastet ist, mit Job und Pflege.
   Manche Beschäftigten reduzieren ihre Arbeitszeit. Andere hangeln sich irgend-wie durch und lassen sich auch mal krankschreiben. Oder sie steigen ganz aus ihrem Beruf aus. Die Pflege Angehöriger bedeutet für viele das Ende des beruflichen Aufstiegs – und für die Volkswirtschaft einen immensen Verlust an Know-how.
   Das Potenzial an Arbeitskräften wird sowieso spürbar sinken, bis 2030 dürften laut Prognos-Institut drei Millionen Fachkräfte fehlen. Die Unternehmen täten also gut daran, Modelle zu entwickeln, wie sich Beruf und Pflege besser vereinbaren lassen: mit Arbeitszeitkonten, mit Heim arbeit, Telearbeit oder Gleitzeit. Doch erst ein Fünftel aller Firmen hat spezielle Angebote für pflegende Angehörige ausgearbeitet, meist sind es größere Konzerne.
   Siemens hat ein „Elder Care“-Programm eingerichtet, dazu gehören Vortragsreihen, ein Informationsportal im Intranet und eine eigene Telefonhotline. Auch Bosch bietet solche Hilfen an. Dort können Mitarbeiter für drei Jahre pflegebedingt aus dem Job aussteigen. Das Besondere: Diese Auszeit wird als sogenannter Karrierebaustein angerechnet und berücksichtigt wie ein Auslandsaufenthalt oder Personalverantwortung. Damit soll verhindert werden, dass Pflege zum Karrierekiller wird.
   Der Gesetzgeber tat sich bislang schwer mit Regeln für die Vereinbarkeit von Beruf und Pflege. Angehörige haben zwar mittlerweile Anspruch auf eine Pflegezeit von sechs Monaten oder eine Familienpflegezeit, in der sie maximal zwei Jahre lang ihre Arbeitszeit auf bis zu 15 Wochenstunden verringern können. Doch die Familienpflegezeit gilt nur in Betrieben mit mehr als 25 Beschäftigten, Millionen Mitarbeiter bleiben davon ausgeschlossen.
   Ohnehin können sich die wenigsten eine solche Auszeit überhaupt leisten. Der Staat gewährt zum Ausgleich lediglich ein zinsloses Darlehen, die Empfänger müssen es zurückzahlen. Entsprechend gering ist die Resonanz: Seit 2015 wurden 754 Anträge eingereicht und 618 bewilligt. Zum Vergleich: Allein im Jahr 2016 haben 1,64 Millionen Väter oder Mütter, die ihre kleinen Kinder betreuen, Elterngeld bezogen. Der Unterschied: Sie bekommen je Kind bis zu 21 600 Euro vom Staat quasi geschenkt.
   So hängt es überwiegend vom guten Willen des Arbeitgebers ab, ob die Beschäftigten die Pflege mit ihrem Job vereinbaren können. Bei ExTox in Unna funktioniert es vor allem, weil Geschäftsführer Osterkamp seine Mitarbeiter kennt und allen Vertrauen entgegenbringt. Olaf Kayser arbeitet dort im Lager, vor einem Jahr
musste er immer wieder die Arbeit spontan unterbrechen und zur krebskranken Mutter eilen, vor allem nach der Chemotherapie ging es ihr oft schlecht. Manchmal blieb er Stunden weg, manchmal auch Tage, aber stets traf er auf Verständnis, daran erinnert er sich. „Ich konnte jederzeit das Lager verlassen.“ Kayser wusste, dass der Betrieb hinter ihm steht das hatte ihm Geschäftsführer Osterkamp versichert, er solle sich keine Sorgen machen, sie würden das schon wuppen.
Im vergangenen Sommer ist Kaysers Mutter gestorben. Die Unterstützung, die er bekommen hat, rechnet der Lagerist den Kollegen hoch an. Ihm ist bewusst, dass es auch ganz anders hätte kommen können. Er hat es selbst erlebt.
   Vor Jahren arbeitete Kayser als Pfleger in einem Wachkoma-Zentrum. Dort habe er beobachten müssen, wie Angehörige alleingelassen wurden, erzählt er: von den Freunden, den Kollegen, auch den Verwandten. Sie alle habe die Situation überfordert. „Viele Familien“, hat er gesehen, „gehen daran zugrunde.“

DER SPIEGEL 05/2018 vom 27.01.2018
Titel: Mamas hilflose Helfer
Foto: AGATA SZYMANSKA-MEDINA / DER SPIEGEL

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